Todgeweiht

von lschnabl

Iwao Hakamada wartet 48 Jahre lang auf seine Hinrichtung. Dann kommt er frei. Von einem, der überlebt hat. Von Lena Schnabl (NZZ am Sonntag, 4/2016)

 

Der Mann, der 48 Jahre lang auf seine Hinrichtung wartete, nimmt Erdbeer-Sahne auf die Gabel. Iwao Hakamada, ein ehemaliger Profiboxer, ein kleiner Mann von einem Meter fünfzig, isst gern Süsses. Mit Anfang dreissig als vierfacher Mörder zum Tode verurteilt und 2014 als Unschuldiger aus der Haft entlassen, soll er heute Geburtstag feiern. In Freiheit. Er wird 79 Jahre alt.

Hakamada sitzt auf einem Sessel in einer Wohnung in Hamamatsu, einer Stadt 250 Kilometer südlich von Tokio, wo er 1936 als Jüngster von sechs Geschwistern geboren wurde. Ihm gegenüber sitzt seine Schwester Hideko, 81 Jahre alt. Seit seiner Freilassung lebt er bei ihr. Hakamadas Unterstützer haben Kuchen und Geschenke besorgt.

Hakamadas Geschichte ist die eines unvergleichlichen Justizskandals. Länger als jeder Mensch vor ihm sass er im Todestrakt. Seit 2011 steht er damit im Guinness-Buch. Will man wissen, was ein Leben in Isolationshaft mit einem Menschen macht, muss man zu ihm. Man muss seine Akten und Briefe lesen und ihn begleiten. Seine Geschichte handelt von einem, der überlebte.

Brief aus dem Gefängnis 1967. Vielen Dank für eure Unterstützung. (. . .) Nichts an dem Leben hier ist mühsam, nur die Freiheit fehlt. (. . .) Morgen, am 10. März, ist mein 31. Geburtstag. Weil es ein Gefängnis ist, kann ich euch nicht empfangen.

Geld und Leben

48 Jahre später, am 10. März 2015, packt Hakamada ein Lederportemonnaie aus. Er achte auf Geld, heisst es. «Man kann nur leben, wenn man Geld hat», sagt er. Ein Mann spielt Gitarre, singt: «Der Sohn schreibt immer weiter Briefe, schreibt, dass er es nicht getan habe. Lebe! Bis deine Unschuld bewiesen ist.» Der Sohn hört sanft und gleichmütig zu. Als ginge es nicht um ihn. «Wie hat dir das gefallen?», fragt einer. Hakamada sagt: «Man muss auf seinen Körper achten. Wenn man stark ist, kann man die Welt verbessern.» Und das Lied? «War viel Energie drin.» «Ich bin die Anwältin Tanaka, erinnerst du dich an mich?» «Nicht wirklich.» «Ich unterstütze dich seit den achtziger Jahren. Du hast mir Briefe geschrieben.» «In der Welt gibt es vieles, und man vergisst auch vieles.»

Brief aus dem Gefängnis 1967. Seit einem halben Jahr konnten wir uns nicht mehr sehen. Mir geht es gut. Es tut mir leid, dass ich den Verwandten Sorgen bereite. Mit dem Vorfall bei der Kogane-Misofabrik habe ich nichts zu tun. Ich bin unschuldig. Ich warte jetzt gelassen auf das Urteil. Ich bin in einem warmen Zimmer, also bin ich nicht unzufrieden. (. . .) Bitte gebt auf euch acht.

Hakamada war Boxer. Fünfzehn Jahre alt, trainierte er neben der Arbeit in einer Werkstatt, bewies Talent, kam schnell nach oben. Federgewicht. Im Frühling 1958 beschrieb ein Magazin den mittlerweile 21-Jährigen als «stürmischen Fighter». Im gleichen Jahr zog er von der Provinz in die Nähe von Tokio, um dort als Profiboxer zu trainieren. Zwei Jahre nach seinem Debüt war er auf Platz sechs in Japan. Flog nach Manila für einen Kampf. Dann schwächelte der Körper.

Hakamada wollte pausieren und zog zurück in die Provinz, nach Shimizu, wo sein Manager ihm einen Job in einer Bar verschaffte. Er heiratete eine Tänzerin, bekam einen Sohn, übernahm eine andere Bar, trennte sich. Ein Lebemann. Aber ein Anpacker. Über Kontakte bekam er einen Job in einer Misosuppenfabrik. Der Chef ein Judoka, der sich wie Hakamada in der Vergnügungsbranche herumtrieb. Hakamada war öfter zum Abendessen im Wohnhaus der Familie. Sie sollen ein enges Verhältnis gehabt haben.

In der Nacht des 30. Juni 1966 brennt das Wohnhaus des Chefs. Später findet man vier Körper: die Frau und den Sohn des Chefs, einander im Schlafzimmer umklammernd, übersät mit Stichwunden. Die Tochter im Raum daneben, Stichwunden in der Brust. Der Chef selbst in der Nähe des Hintereingangs, auch sein Körper weist Stichwunden auf. Neben den Leichen wird ein Messer mit einer Klinge von 12 Zentimetern gefunden. Ausserdem fehlt Geld, 60 000 Yen, 435 Euro. Damit fängt es an.

Shimizu hat heute etwa eine viertel Million Einwohner. Weder die Suppenfabrik noch das Wohnhaus des Chefs stehen noch. Der Täter soll über die angrenzenden Schienen zum Wohnhaus gelangt sein, heute schirmt ein Zaun die Gleise ab. Man sieht noch die Balken des Hauses, in dem die Morde passierten, als schwarzen Russ, eingebrannt in die Wände des Nachbarhauses.

Die Polizei ging 1966 davon aus, dass der Täter stark gewesen sein muss. Jemand, der einen Judoka umbringen kann. Und jemand, der gewusst hatte, dass gerade Zahltag war und mehr Geld im Haus als üblich. Der Verdacht fiel auf Hakamada, den Boxer. Er hatte kein stichhaltiges Alibi für die Tatzeit, eine kleine Verletzung am Finger und ein paar Flecken auf dem Pyjama.

Sakko, Flieger, Fächer

Tokio, 2015. An einem Donnerstag im März, fünf Tage nach seiner Feier in Hamamatsu und fünf Tage vor seinem Geburtstag, sieht Hakamada einen Boxkampf. So richtig, im Tokyo Dome. Das erste Mal seit seiner Freilassung sitzt er, Sakko, Fliege, Papierfächer, auf einem Klappstuhl in der zweiten Reihe vor dem Ring und beobachtet, wie sich die Federgewichtigen gegenseitig auf die Nase hauen.

Wie meistens ist Hakamadas Gesicht bewegungslos. Er klatscht nicht. Er spricht nicht. Er lässt die Kämpfe an sich vorbeiziehen. «Wie eine No-Maske», beschreibt es seine Schwester an einem anderen Tag. Sie sitzt heute zu seiner Linken. Doch die Masken, die No-Darsteller beim japanischen Theater tragen, erlauben durch verschiedene Neigungen verschiedene Gesichtsausdrücke: Freude, Trauer, Schmerz. Eine grössere Bandbreite als Hakamada zu bieten hat.

Im Ring schlägt Atomgewicht-Champion Ayaka Miyao einen linken Haken und trifft ihre Gegnerin am Kiefer, es folgt eine rechte Gerade in den Bauch. Sie kämpft in der Klasse bis 46 Kilo, in der bisher nur japanische Boxerinnen den Titel holten. Die Fans grölen. Miyao gewinnt. Hakamada fächert sich Luft zu.

«Wir haben heute einen besonderen Gast!», ruft der Ringsprecher, «den ehemaligen Profiboxer Iwao Hakamada, der fünfzig Jahre lang unschuldig im Todestrakt sass.» Als die Zuschauer applaudieren, springt Hakamada auf und klettert auf den Ring. Seine Schwester ruft ihm hinterher, er solle zurückkommen. Ein Auftritt war nicht geplant. Hakamada hat Probleme, zwischen den Seilen durchzuschlüpfen, er prallt zunächst ab. Dann steht er im Ring. Er wackelt von Ecke zu Ecke, tatterig, und lässt sich beklatschen. Währenddessen versucht der Schiedsrichter ihn wieder einzufangen. Seine Schwester lacht, wohlwollend, wie man einem kleinen Hund zulacht, wenn der gerade Unsinn stiftet, winkt ihren kleinen Bruder zu sich.

1966, bei einer ersten Befragung, sagte Hakamada der Polizei, er habe zur Tatzeit im Wohnheim geschlafen, habe sich die Verletzung am Finger bei den Löscharbeiten am Haus des Chefs zugezogen und der Fleck auf dem Pyjama sei kein Blut, sondern Misopaste. Hakamada war für die Ermittler der einzige Verdächtige. Er kam in Untersuchungshaft, die in Japan bis zu 23 Tage dauern kann. Durchschnittlich zwölf Stunden am Tag wurde er verhört.

Am 6. September um zehn Uhr morgens, nach insgesamt 264 Stunden Verhör, drei Tage bevor die Polizei ihn aus der Untersuchungshaft hätte entlassen müssen, gestand Hakamada die Tat. Es folgten weitere Geständnisse. Fünfundvierzig Stück. Einmal habe er eine Affäre mit der Frau seines Chefs gehabt, ein anderes Mal habe er einfach nur das Geld haben wollen. Das Motiv wechselt, als wäre es auch egal, warum jemand vier Menschen tötet, und vielleicht auch als wäre jemand bereit, zu allem Ja zu sagen, was ihm vorgesetzt würde. Des Leugnens leid.

Während zunächst Hakamadas Pyjama als Beweis herhalten sollte, tauchten ein Jahr nach der Festnahme weitere Kleidungsstücke auf. Ein Hemd, eine Hose, eine lange Unterhose und Unterwäsche wurden aus einem der Misofässer der Fabrik gefischt. Auf ihnen grosse Blutflecken. Die Blutgruppen Hakamadas und der Opfer wurden festgestellt. Auch wenn Hakamada den Mord mittlerweile wieder leugnete und er nicht in die Hose passte, er wird zur Todesstrafe verurteilt.

Tote Schweine

Hakamadas Familie glaubte an seine Unschuld und war damit zunächst allein. Erst als der Oberste Gerichtshof in den achtziger Jahren die Todesstrafe endgültig bestätigte, bildeten sich Unterstützergruppen. Eine Gruppe machte Versuche, um Hakamadas Unschuld zu beweisen: Sie besorgte tote Schweine und stach mit dem kleinen Messer, das als Tatwaffe bestimmt wurde, auf sie ein. Es hielt nicht stand, verformte sich. Sie legten blutbefleckte Kleidung in ein Misofass, machten über ein Jahr immer wieder Bilder. Nach einem Tag sah die Kleidung so aus wie die von den Ermittlern vorgeführte Tatkleidung, aufgrund deren Hakamada verurteilt wurde. Nach einem Jahr waren keine Blutflecken mehr da. Die Kleidung hatte die braune Misofarbe angenommen. In Tokio unterstützte eine katholische Kirchengemeinde Hakamada und die Boxer. Sie startete eine Kampagne zu seiner Freilassung und reserviert ihm seitdem bei Boxkämpfen zwei Stühle im Tokyo Dome.

Heute, im März 2015, ist es das erste Mal, dass Hakamada das nutzt. Als die acht Kämpfe nach Stunden ausgefochten sind, gibt Hakamada zusammen mit seiner Schwester und seinem Anwalt eine Pressekonferenz. Ein Boxer, der während der Kämpfe neben ihm sass, sagt vorab, dass Hakamada am Geschehen regen Anteil genommen habe. Auf Nachfrage habe er gesagt «heftige Rechte» oder: «Bei dieser Runde hat Blau die Oberhand.» Auch die Schwester sagt, so wohlauf habe sie ihn selten gesehen. Schon frühmorgens habe er sich zurechtgemacht. Er wollte von Anfang an dabei sein. Sie meint jetzt: «Boxen ist die beste Rehabilitation.»

Dann spricht Hakamada. Auf die Frage, wie ihm die Veranstaltung heute gefalle, sagt er: «Wir sind in ein Zeitalter der Keuschheit eingetreten» und: «Ich bin der Chef und schaffe eine glücklichere Welt.» Es ist schwierig, ihn zu bremsen, wenn er einmal mit Sprechen loslegt. «Es reicht», sagt seine Schwester. Auf seine Lage angesprochen, sagt er: «Es gibt keine Todesstrafe, die habe ich abgeschafft.» Hakamada sass so lange in seiner Zelle, bis das Gefängnis, das ihn umgab, sich auflöste. Eine Flucht nach innen, in eine eigene Welt mit eigener Logik und eigener Realität.

Brief aus dem Gefängnis 1980. Es sind 13 Jahre, dass sie mich zu einem zum Tode Verurteilten gemacht haben. (. . .) Während (die Mitinsassen) unter dem Warten auf ihre Hinrichtung leiden, wünschen sich die meisten, sich kühn selbst das Leben zu nehmen, bevor sie, sich selbst vergessend, einen unschönen hysterischen Anfall bekommen. (. . .) Eigentlich ist nicht die Todesstrafe das Furchtbare. Das Herz, das sich so furchtbar fürchtet, ist das Furchtbare.

Ein zu Tode Verurteilter sitzt in Japan in Einzelhaft. Jeder Tag kann sein letzter sein, denn der Gefangene erfährt erst morgens, ob er ein paar Stunden später hingerichtet wird. Ihm ist nicht erlaubt, mit den Wächtern oder anderen Insassen zu sprechen. Dreimal die Woche dürfen die Gefangenen eine halbe Stunde lang Sport machen. Getrennt voneinander. Davon abgesehen sollen sie möglichst regungslos in ihren Zellen sitzen. Sie dürfen unregelmässig Besuch von ihren Anwälten und Verwandten empfangen und täglich einen bis zu sieben Seiten langen Brief schreiben. Der Häftling führt ein Halbleben. Er kann nicht leben und muss darauf warten, zu sterben. Das Gefängnis ist eine Art Bahnhof, eine Durchgangsstation zwischen Leben und Tod. Und niemand weiss, wann der Zug fährt.

Brief aus dem Gefängnis 1981. An einem Frühlingstag (. . .) habe ich im Gebüsch auf dem Weg zum Sportplatz eine kleine Schlange entdeckt. Ich stampfte auf den Kopf der Schlange, die flüchten wollte, als sie mich sah, ich packte den Schwanz und sah sie baumeln. Da floss rotes Blut aus dem Mund der Schlange (. . .), schnell warf ich sie weg. (. . .) Das Blut an der Seite meiner Gummilatsche rief eine plötzliche Frühlingsfurcht hervor. (. . .) Die unbeheizte, abgekühlte Einzelhaft ist unsere Welt.

Essen, schlafen, lesen

Hakamada schrieb viele Briefe aus dem Gefängnis. An seine Eltern, an Schwester Hideko. Er beschrieb seinen Alltag: essen, schlafen, lesen. Schattenboxen, ab und an einen Film schauen, Kekse essen, Radio hören beim Friseur. Jahr um Jahr vergeht. Hakamada beteuert seine Unschuld. Geht die Beweise durch. Legt dar, wie er zu seinem Geständnis gezwungen wurde. Dass er diesen für ihn untragbaren Verhören habe entfliehen wollen. Hakamada erklärt, warum er es nicht gewesen sein kann. Die Hose zu klein, das Messer zu mickrig, der angegebene Fluchtweg unmöglich.

Brief aus dem Gefängnis 1982. Vor meiner Zelle gibt es einen Kirschbaum. (. . .) An jedem Ast sind die Blumen jetzt in voller Blüte. (. . .) Meine Seele ist dem Geist der Blumen gefügig. Ich singe sie an: Sakura, sakura, der Frühlingshimmel, so weit das Auge reicht . . . «Hakamada, machst Du Hanami? Sie blühen schön, oder. Die Zweige sind schwer bepackt, oder. Ah, wie gut der Sake schmeckt.» Der Mann in der Nachbarzelle scheint Wasser trinkend Hanami zu machen.

Todeskandidaten werden am Tag ihrer Hinrichtung morgens mitgenommen. Ein Seil, drei Zentimeter dick, zum Töten, eine Buddhastatue und ein Kreuz für das Leben danach. Dann drücken drei Beamte im Nebenzimmer jeweils auf einen Knopf. Einer davon öffnet eine Falltür. Der Gefangene hängt. Das Genick bricht, die Atmung stoppt. Ein Arzt kontrolliert, wann das Herz zu schlagen aufhört. Im Schnitt dauert es 15 Minuten. Der Erhängte wird in Weiss gekleidet. Seine Familie wird über den Tod informiert, und die Habseligkeiten werden übergeben.

Tagebucheintrag 1984. 11. März, klares Wetter. (. . .) Ich bin voll von Trauer und Schmerz. (. . .) Ich habe eine Postkarte an Kiyoko Iwashita geschrieben. (. . .). Am Abend sagte ein Angestellter: «Hakamada, diese Frau ist letzten Monat gestorben.» (. . .) Das war ein Schock.

Die letzte Postkarte an seine Schwester sendete Hakamada 1991. Ab dann dringt fast nichts mehr nach aussen. Hakamada verweigert ab 1994 Besuche. Er habe keine Schwester. Zwölf Jahre lang fährt sie trotzdem nach Tokio, schreibt ihren Namen, ihre Adresse, ihr Verwandtschaftsverhältnis, zeigt ihren Ausweis. Wie beim Bürgeramt erhält sie eine Nummer und wartet, bis diese aufscheint.

Dreissig Minuten später betritt sie den Besuchsraum Nummer 5, zehnter Stock. Dort steht jemand, eine Wache. Hakamada kommt nicht. 2006 sah sie ihn erstmals wieder, dann verweigerte er sich aufs Neue. Hideko fährt jeden Monat hin. Und wenn sie ihn sehen kann, achtet sie auf seine Gesichtsfarbe und nicht darauf, was er sagt. Weil das meistens Unsinn ist.

Wahnvorstellungen

Ein psychologisches Gutachten wurde erstmals 2007 erstellt. Es sollte festgestellt werden, ob Hakamada mental fit genug ist, ein Erbe anzutreten. Der Arzt kam zu dem Schluss, Hakamada leide unter Wahnvorstellungen, hervorgerufen durch den langen Gefängnisaufenthalt. 2008 wurde er von einem anderen Arzt untersucht. Der fragte ihn, was eine Hinrichtung sei. Hakamada antwortete: «Die Weisheit stirbt nicht. (. . .) Es gibt viele Frauen in der Welt und viele Tiere. Jeder lebt und fühlt etwas. Elefanten, Drachen. Ich werde keineswegs sterben.»

Und Hakamada stirbt nicht. Keiner der etwa sechzig Justizminister autorisiert seine Hinrichtung. Etwa hundert Insassen werden unterdessen gehängt. Und Hakamada stirbt auch keines natürlichen Todes im Trakt, wie der 95-jährige Hirasawa Sadamichi 1987. Hakamada kommt frei. Doch dazu musste erst ein anderer Mann auf die Bildfläche treten.

März 2015. Während Hakamada in Hamamatsu seinen Geburtstag feiert – Biskuittorte, Gitarre, Gesang –, liegt Norimichi Kumamoto, einer der drei ehemaligen Richter im Süden Japans, im Krankenhaus. Der zweite Schlaganfall. Dazu Alzheimer, Parkinson, Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Kumamoto kann nicht mehr sprechen, nur noch Nicken und den Kopf schütteln.

Kumamoto ist 2007 an die Öffentlichkeit gegangen. Damit, dass er Hakamada immer schon für unschuldig gehalten habe. Und damit, dass er von den anderen Richtern überstimmt worden sei. Auch Kumamoto war schon wackelig geworden, sprach verzerrt durch einen schmalen Mund im Fernsehen und in New York bei Amnesty International. Sagte Sätze wie: Jeden Tag bete ich, dass Hakamadas Unschuld anerkannt und er aus dem Todestrakt entlassen wird. Kumamoto brachte den Fall wieder in die Medien. Zeigte, dass sich das japanische Justizsystem täuschen kann. Und dass all die Unterstützer mit ihren Tests an Schweinekörpern und blutverschmierter Kleidung wenig ausrichten konnten. Es brauchte eine Respektsperson. Kumamoto.

Er war der Richter, der das Urteil schreiben sollte. Teilweise liest es sich wie eine Verteidigung: «Das Verhör (. . .) hatte einen zwanghaften und nötigenden Einfluss gegenüber der freien Entscheidungsfindung des Angeklagten. Folglich hätte jeder Schwierigkeiten, die Geständnisse, die unter dieser Art der Befragung entstanden sind (. . .), als in ‹freier und rationaler Wahl› niedergeschriebene Geständnisse zu betrachten. Wir können sie daher nicht als Beweise (. . .) genehmigen.»

Kumamoto wurde überstimmt und schwieg. Er habe einen Brief an Hakamadas Anwälte geschrieben, der unbeantwortet blieb. Er hatte eine steile Karriere vor sich, Richter mit nur 29 Jahren. Vor Hakamada hatte er fünf weitere Todesurteile gefällt. Nicht die Todesstrafe schien ihn zu wurmen, sondern Hakamadas Fall.

Nach dem Urteil gab Kumamoto seinen Job auf, arbeitete als Lehrer und Anwalt, trennte sich von seiner zweiten Frau, mit der er zwei Töchter hat. Seinen Sohn aus erster Ehe hatte er nie gesehen. Er streifte umher, wurde obdachlos. Dann traf er eine neue Frau und erzählte erstmals von Hakamada und seinen Zweifeln. Der Sohn der neuen Freundin entwarf ein Weblog. Das Geheimnis war raus. Und die japanische Justiz reagierte. Es wurde ein DNA-Test gemacht. Auf der blutverschmierten Kleidung fand sich weder die DNA der Opfer noch Hakamadas. Das Verfahren wurde wieder aufgerollt.

Landgericht Shizuoka, 2014. Der Angeklagte wurde für schuldig befunden und für eine extrem lange Zeit eingekerkert mit der Bedrohung der Todesstrafe, basierend auf wichtigen Beweisen, die möglicherweise von den Ermittlungsbehörden manipuliert worden sind. Jetzt, wo die Unschuld des Angeklagten hoch wahrscheinlich ist, würde seine weitere Inhaftierung die Gerechtigkeit zu einem nicht tolerierbaren Umfang verletzen.

«Ihr lügt»

Und dann kommt Hakamada frei. Nach beinahe 50 Jahren. Der oder die wirklichen Täter wurden nie gefasst. Der einzige Verdächtige war Hakamada, und die Beweise gegen ihn waren anscheinend gefälscht. Er habe nicht mitkommen wollen, als sie ihn abholen kamen. «Du bist jetzt frei.» Drei Anwälte und Hideko, die Schwester. «Ihr lügt.» Wenn es kein Gefängnis gibt in seiner Realität, wozu muss er hinaus in die Freiheit?

Hideko kommt am nächsten Tag wieder, will ihren kleinen Bruder gleich mit nach Hause nehmen. Gleich in Tokio in den Shinkansen, den japanischen Hochgeschwindigkeitszug, steigen und nach Hamamatsu fahren. Bei einer ersten Autofahrt übergibt sich Hakamada. Sie halten in einem Parkhaus. Vielleicht doch erst einmal in Tokio bleiben. Zuerst im Hotel, wo Hakamada das erste Mal in seinem Leben in einem Bett schläft, er war einen Futon am Boden gewohnt. «Er ist rumgekugelt und hatte Probleme, daraus aufzustehen, so weich war es», sagt Hideko. Am nächsten Tag in ein Krankenhaus. Erst zwei Monate später ist Hakamada fit genug für die Fahrt nach Hause. An ihm zieht eine Welt vorbei, die er nicht kennt.

Hochgeschwindigkeitszüge, sprechende Rolltreppen, Leuchtreklamen. Hakamadas Augen bewegen sich nicht, schauen sich die Welt, die er verpasst hat, wahrscheinlich gar nicht an. Gleichmütiger als eine No-Maske, gleichmütig wie eine Daruma-Figur aus Pappmaché. Er kennt dieses Hamamatsu nicht, auch wenn er hier geboren wurde. Die «Act City», ein Shopping-Hotel-Büro-Komplex, in dessen Mitte ein 45-stöckiger Turm thront. Die Fast-Food-Ketten gegenüber dem Bahnhof. In der Heimatstadt ist Hakamada zunächst im Spital. Wieder Wochen später zieht er in das Apartment der Schwester. Er verlässt es zwei Monate lang nicht.

Am Anfang hat Hakamada gar nicht gesprochen. Gebrabbelt habe er, und man habe kein Wort verstanden. Sprach in eine Richtung, in der gar niemand stand. «Das war etwas unheimlich», sagt Hideko. Und er streunte die Gänge in der Wohnung entlang. «Es gab Tage, an denen ist er zehn Stunden nur spaziert. Im Apartment.» Er ist wenige Wochen in Hamamatsu, da bricht er zusammen. Wieder Krankenhaus. Herzkatheter. Seitdem ist er körperlich relativ gesund. Im Gefängnis ist er ein alter Mann geworden. Gebrechliche 79, davon 48 in einer Zelle. Er spricht jetzt, selbst wenn das wenigste davon Sinn ergibt, schaut das Gegenüber dabei an. «Gibt es Drachen?», fragt er.

Jeden Morgen um 4 Uhr 30 steht Hakamada auf. Es dauert etwa eine Stunde, bis er sich für das Frühstück bereitgemacht hat. Zehn Minuten aufstehen, zehn Minuten Bad, zehn Minuten Futon zusammenfalten, zehn Minuten anziehen. Ein Leben in Zeitlupe. «Ich glaube schon, dass er die Wohnung mittlerweile kennt. Als Ort, an den er zurückkehrt und an dem er sich sicher fühlen kann», sagt Hideko. Sie glaubt, dass er läuft, um in seiner Welt etwas zu bewegen. «Dagegen gibt es keine Medizin.»

Glück und Langlebigkeit

Hideko erzählt im Apartment vom ersten Jahr in Freiheit mit ihrem Bruder. Sie holt alte Fotos aus dem Schrank: Hakamada als Bub in Badehose mit seinen fünf Geschwistern. Hakamada mit Boxhandschuhen, die er zur Abhärtung verkehrt herum trug. Hakamada in Manila. Das jüngste Bild in Freiheit zeigt ihn 1966 in der Misofabrik, ein Handtuch um den Nacken.

Kleine gestrickte Boxerfiguren hängen an der Wand neben Origami-Kranichen, dem japanischen Symbol für Glück und Langlebigkeit. Alles Geschenke. «Ich brauche das alles nicht», sagt Hideko, lacht kurz auf, dann formt sich ihr Gesicht wieder zu einem Lächeln. Hideko lächelt immer und lacht oft. Es ist das für Japan so typische versöhnliche Lächeln, das aiso warai, hinter dem sich oft schmerzhafte Gefühle verbergen. Es geht nicht nur darum, die eigenen Emotionen im Privaten zu belassen, sondern auch darum, das Gegenüber zu schützen. Niemand soll sich verpflichtet fühlen, Hilfestellung zu leisten oder Empathie zu äussern. Aiso Warai ist die Kunst, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, egal, wie es im Inneren aussieht.

Freunde habe sie kaum, sagt Hideko. Sie habe sich zurückgezogen. Sie wollte sich nicht mit Menschen umgeben, die dachten, ihr Bruder sei schuldig. «Ich hatte Angst, die anderen könnten mich beeinflussen.» Einmal dachte Hideko über das Heiraten nach, verwarf die Idee aber. «Ich hätte mich nicht mehr um ihn kümmern können», sagt sie. «Irgendwann habe ich mein Schicksal akzeptiert.» Ein schreckliches Schicksal, ja, aber was bringe es, darüber zu lamentieren. Gaman shika nai. Das Einzige, was man tun kann, ist durchhalten, sagt sie. Hideko erträgt und lächelt. Hakamada habe doch auch durchgehalten, er habe überlebt.

Im März 2015 ist Hideko, 81, fast jeden Tag unterwegs. Sie nimmt bei der Geburtstagsfeier in Hamamatsu Geschenke für ihren Bruder entgegen und in einer Kirche in Tokio Kuchen. Sie geht zum Boxen, zu Gedenktagen, zum Gericht. Sie sieht müde aus hinter ihrem Lächeln. «Etwas viel» sei das alles, aber gaman shika nai. Das Einzige, was man tun kann, ist durchhalten. Dass Iwao nun bei ihr ist, sei so schön wie ein Traum.

Hakamada läuft jetzt nicht mehr so viel, vielleicht zwanzig Minuten am Tag. Die restliche Zeit sitzt er im Wohnzimmer, er schaltet den Fernseher ein. Er wechselt auch das Programm. Aber seine Augen bewegen sich nicht. Er sieht nicht fern, sondern in die Ferne. Dann steht er auf, holt aus einem Regal das Shogi-Spiel, die japanische Variante von Schach, stellt es auf einem niedrigen Couchtisch auf und setzt sich wieder. Hakamada hat das Spiel als Kind von seinem Bruder gelernt. «Warum bist du so stark im Shogi?» «Weil ich der Stärkste bin.» «Verlierst du nie?» «Nein, das geht gar nicht.» «Warum?» «Weil das hier ein Haus Gottes ist.»

Brief aus dem Gefängnis 1985. Ich bete momentan vor dem Schlafen etwa eine halbe Stunde und morgens etwa eineinhalb Stunden. (. . .) Zwischen halb fünf und fünf erhalte ich vom Heiligen Geist Kraft zum Aufwachen. (. . .) Ich lerne von der heiligen Maria, ein menschliches Leben für Gott zu führen.

Den Glauben fand Hakamada in seiner Zelle. Nachdem die Todesstrafe 1981 durch den Obersten Gerichtshof bestätigt worden war, wurde er Christ. Er nannte sich Paul und wollte sich taufen lassen, nur Gott könne ihn beschützen. Er zitierte aus der Bibel, schrieb immer häufiger in seinen Briefen über Gott. Er beschäftigte sich so viel mit Gott, bis er dachte, dass er selbst eine Gottheit sei.

Brief aus dem Gefängnis 1985. Ich werde mir bewusst, dass es Freiheit in der Unfreiheit gibt, solange das Herz frei ist. Auch wenn dieser Körper isoliert ist, verschwinden die Lieder und Lobpreisungen nicht aus meinem Mund.

Beim Shogi-Spiel setzt Hakamada Stein um Stein, gewinnt auch heute. Nur einmal, sagt seine Schwester, habe er bisher verloren, gegen einen Reporter vom japanischen Fernsehen. «Hast du nicht gestern verloren?» «Nein, ich kann nicht verlieren.» Weil die Wohnung Gott gehöre. «Und weil ich darauf warte, dass er zurückkommt, kann ich nicht rausgehen.» Deswegen nimmt er nur selten an Veranstaltungen ausserhalb der Wohnung teil. Hakamada ist nach all den Jahren gefangen in einer Zelle, gefangen in einem Geist. «Eigentlich», sagt ein Unterstützer, «will ich den kämpfenden Hakamada sehen, aber ich denke, das ist schwierig.»

Mord an Schulmädchen

Der Unterstützer hat ehemalige Todeskandidaten nach ihrer Freilassung kämpfen sehen. Zum Beispiel Kazuo Ishikawa, der 1963 für den Mord an einem Schulmädchen verantwortlich gemacht wurde. Wie Hakamada gestand er die Tat nach langen Stunden des Verhörs. Und auch bei ihm scheinen Beweise manipuliert worden zu sein. Er wurde 1963 erst zum Tode verurteilt, zehn Jahre später wurde die Strafe in lebenslänglich umgewandelt. 1994 kam er auf Bewährung frei.

Ishikawa steht auch heute noch zweimal die Woche vor dem Gericht in Tokio und demonstriert in einem T-Shirt mit der Aufschrift: «Ich bin unschuldig». Neben ihm spricht seine Ehefrau mit dem Megafon in der Hand gegen das Gebäude an: «Ishikawa ist 76. Hakamada ist 79. Bitte erkennt ihre Unschuld an! Oder wartet ihr, bis die zwei sterben?»

Brief aus dem Gefängnis 1984. Wenn ich die Freiheit gewinne, ist das Erste, was ich mir erfüllen möchte, (. . .) dieser Traum. Laufen und dabei mit Schulter und Hüfte den Wind zerschneiden. (. . .) Vielleicht bin ich Champion geworden, weil ich einfach immer weiterlief.

Auch Hakamadas Schwester steht vor dem Gerichtsgebäude in Tokio, sie bespricht sich heute mit den Anwälten. Gaman shika nai. Das Einzige, was man tun kann, ist durchhalten. Hideko lächelt: Sie hoffe, dass das Gerichtsurteil bis zu ihrem Tod entschieden ist, sagt sie. Während in Tokio für Hakamada demonstriert wird, ist er zu Hause. Er passt auf die Wohnung auf. Wartet dort nicht mehr auf den Tod, sondern ob Gott vielleicht zurückkommt.

 

 

Für immer allein

Die Auswirkungen von Einzelhaft sind gut erforscht. Die Persönlichkeit der Inhaftierten spielt dabei eine weniger grosse Rolle als die Dauer der Verwahrung ohne jedes soziale Umfeld. Früher oder später zeigen alle Einzelhäftlinge Auswirkungen, insbesondere psychischer Art. Als klassische Erscheinungen der Isolationshaft gelten Störungen der Wahrnehmung, Schwierigkeiten oder Unvermögen, zu lesen und zu schreiben, sowie der zum Teil irreversible Verlust an Gefühlsintensität. Von Menschenrechtsorganisationen wird die Unterbringung in Einzelhaft geächtet und als Foltermethode bezeichnet.

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