Du brauchst gefütterte Unterhosen

von lschnabl

Ein Umzug von München nach Berlin. Normalweise setzt man sich ins Auto und fährt dem Möbelwagen hinterher. Oder nimmt den Zug. Nicht so unsere Autorin: Sie wollte das unbedingt per Rad machen. Von Lena Schnabl (Das Magazin, 10/2014)

Am Anfang war die Idee. Von München nach Berlin mit dem Fahrrad. Google sagt, man braucht für die 640 Kilometer 35 Stunden. Fünf Stunden täglich erschienen mir machbar – zwei Vormittags, zwei Nachmittags – also teilte ich die Strecke in etwa gleichgroße Teile. München-Regensburg. Regensburg-Weiden. Weiden-Cheb. Cheb-Zwickau. Zwickau-Leipzig. Leipzig-Wittenberg. Wittenberg-Berlin. Es war damit meine bisher bestvorbereitete Reise.

Meine Erwartung: Ein Land besser kennenlernen, das ich, obwohl ich hier geboren bin, kaum kenne. Mein Land. Deutschland.

Mit meinem Fahrrad fuhr ich gerne in der Stadt rum. Ich hatte Packtaschen, um Dreckwäsche in den Waschsalon und Essen in meinen Kühlschrank zu bringen. 30 Kilometer am Tag hat man da schon mal zurückgelegt. Ich hatte keine Bremsen und keine Gänge. Weil mein Fahrrad alt ist und mir dennoch genügte.

Gedanken von Freunden: „Mittelgebirge… da würde ich den Zug nehmen.“„Mit diesem Rad wird das nichts.“ „Bremsen und Helm sind Pflicht.“ „Nimm Magnesium.“ „Hast Du ein GPS?“ „Du brauchst gefütterte Unterhosen.“

So kam ich nach und nach doch noch zu Ausrüstung. Eine Autokarte aus dem Jahr 1990. Ein 15 Jahre altes GPS. Ein Fahrradhelm. Ein Fahrrad, das zwar auch alt war, aber stabiler aussah, prinzipiell über 21 Gänge verfügte, ebenso über Licht und Bremsen.

Technische Einführung: Wenn die Gänge nicht so wollen oder die Bremsen, hier am jeweiligen Seil bisschen schrauben, das merkst Du dann schon. Hier Flickzeug. Noch nie einen Reifen geflickt? Anleitung liegt bei. Hier Schraubenzieher, hier Säge, hier noch eine Zange.

Nun habe ich Werkzeug mit dem ich eigentlich nichts anfangen kann. Immerhin sind meine Freunde beruhigt.

Wenn alles gut geht, werde ich in etwa einer Woche in Berlin sein.

Tag eins, Kilometer 0, München

Erstmal losfahren. Erstmal in Regensburg ankommen. Das ist der Plan.

Der Anfang fühlt sich gut an. Die Isar entlang. Im Schatten der Bäume und im Rauschen des Flusses. Es dauert bis Moosburg, bis ich das GPS zum Laufen bringe und weitere 30 Kilometer bis ich es verstehe. Wenn ich abbiegen soll, piept es. Verfährt man sich, hängt es sich auf, um neu zu berechnen. Das dauert dann. Fünfzehn Minuten später weiß ich meist, dass ich hätte links abbiegen sollen.

Es schickt mich auf die Landstraße, die Sonne brennt, jedem überquerten Hügel folgt ein weiterer. Ich versuche mich im Schalten, sobald es bergauf geht, schiebe ich dennoch meist. Ich finde, wenn man nicht schnell fährt, kann man genauso gut absteigen. Unter fünf Kilometer die Stunde ergibt Fahren doch irgendwie keinen Sinn. Autos blasen mir ihre Abgase ins Gesicht. Auf keinem anderen Fahrzeug ist man der Umwelt so unmittelbar und ungeschützt ausgesetzt wie auf dem Fahrrad. Die Oberschenkel melden jede Steigung und jeden Fahrbelagwechsel.

Die erste Bank auf dem Weg wird meine Raststation. Hier, wo eine tote Maus auf dem Asphalt von Fliegen umschwirrt wird, will auch ich meine Brotzeit auspacken. Couscous -Salat und Schokolade.

Das GPS sagt, ich habe etwa die Hälfte geschafft. Ich glaube, dass ich bald ankommen sollte.

Nach sechzig Kilometern reicht es mir eigentlich; es ist zu heiß und zu sonnig. Ich frage mich, woran man einen Hitzschlag erkennt und ob ich mich in Regensburg erstmal übergeben werde. Der Gedanke schafft Erleichterung. Noch ein Hügel, noch ein Hügel. Ich komme vorbei an einer Bäckerei, die damit wirbt, Dienstags und Freitags geöffnet zu haben, Supermärkte sucht man vergebens.

Ein Gasthaus. „Herrgott, wär dös a G’fred, wann i koa Bier net hätt“, steht an der Wand. „Wir haben zu“, sagt die Bedienung. Mittagstisch sei nur von 12 bis 14 Uhr. Es ist 14:15.

Ich bräuchte eine Pause. Das Wasser ist alle, ebenso das Essen und die Konzentration.

Am Fuß des nächsten Hügels nimmt mir ein Lastwagen die Vorfahrt. Danke Helm, danke Bremsen, denke ich. Ich freue mich, dass ich durch Schmatzhausen nach Oberhinkofen fahre.

Ich frage mich, ob ich irgendwann auf dieser Reise mit dem Fahrrad zu einer Menschmaschine verschmelzen werde. Doch die Gedanken werden bald weniger und fäkaler: Scheiß Sonne, scheiß Schaltung, scheiß schwere Beine, scheiß verkrampfter Nacken. Und irgendwann, zehn Kilometer mehr auf dem Tachometer und dreieinhalb Stunden später als Google dachte, komme ich dann an. Mein Magen zieht gebratene Nudeln in sich rein. Grotesk viel Essen und ein Kopf ohne Gedanken. Radeln reduziert mich auf überdimensionale Grundbedürfnisse. Ich beschließe in Zukunft doppelt so viel Brotzeit einzupacken, wie ich normalerweise essen würde.

Tag zwei, Kilometer 131, Regensburg

Als ich aufwache, erinnern die stechend schweren Muskeln bei jeder Bewegung an die Kilometer vom Vortag. Berlin ist immer noch aasig weit weg. Fahren will ich, fahren kann ich heute nicht.

Tag drei, Kilometer 131, Regensburg

Ich trete wieder. Stimmt es denn, was Einstein 1930 in einem Brief an seinen Sohn schrieb? Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärtsbewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Egal, es läuft ganz gut heute. Es ist bewölkt, ich liebe Wolken. Gewitter-Sirenen dröhnen durch die Dörfer. Ich merke, dass es sich viel leichter radelt, wenn die Sonne nicht scheint und dass Steigung das wirklich anstrengende ist. Ich lerne, dass ich mich bei einer Geschwindigkeit zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Stundenkilometern wohl fühle; dass ich bergab ab fünfunddreißig die Kontrolle über das Rad verliere.

Burglengenfeld empfängt mit der Tafel „historische Stadt mit Zukunft“, daneben wird in pinkfarbener Schrift zur Seniorenresidenz geleitet. 1986 demonstrierten in hier hunderttausend Menschen bei einem Anti-Atom-Festival gegen den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage, seitdem hört man nichts mehr von der Stadt.

Begegnung mit einem Radler. Um die 50, enges Radlertrikot über den prallen Bauch gespannt. Er bremst ab und fährt Schlangenlinien, um Tempo mit mir zu halten, denn ich schiebe. Blick auf die Packtaschen.

„Sieht nach einer langen Tour aus. Wo geht’s hin?“

„Nach Berlin.“

„Mädel, Du bist ja verrückt“, sagt er. Und dann: „Das gibt mir neue Kraft.“ Er saust davon.

Durch Irrenlohe gelange ich nach Schwarzenfeld, sehenswert soll hier das Mausoleum der Grafen von Holnstein sein. Ich suche eigentlich nur etwas zu essen.

Vor einem Automaten werfe ich ein paar Münzen in den Schlitz. Erst dann achte ich darauf, was er verkauft. Maden statt Süßkram und belegten Brötchen. 2,50 Euro für einen Plastikpott Wuseln in Sägespäne. Immerhin die Angler werden in der Oberpfalz versorgt.

Nach acht Stunden Radfahren offenbart sich in Weiden die Uniformierung deutscher Kleinstädte: H&M und Backfactory, alles hier ist Kette. Dass die Stadt nahe der tschechischen Grenze einer der Hauptumschlagsorte für Crystal Meth ist, hat wohl auch mit diesem schnöden Einerlei zu tun. Außer billigen Drogen gibt es ein paar Kilometer entfernt noch einen amerikanischen Stützpunkt.

Tag vier, Kilometer 234, Weiden

„Fahr nicht über Tschechien“, sagt ein Mittelalter-Fan in Lederschürze, bei dem ich übernachte. „Es ist der kürzeste Weg.“ „Die Grenzregion dort ist kein Spaß, überall Lastwagenfahrer auf der Jagd nach billigen Nutten.“

Wir suchen gemeinsam eine alternative Route. Dann halt Hof, ehemals deutsch-deutsche Grenzregion. „Bis das Fichtelgebirge beginnt, sollte es ganz easy sein“, sagt er.

„Easy“ finde ich es eher nicht gerade. Die verkaterten Muskeln haben sich zu einem schweren Klotz Bein zusammengezurrt. Während mein Gastgeber sich barfuss zu mittelalterlicher Musik in einem anderen bayerischen Dorf in Trance tanzt, fahre ich bergauf und bergab durch die Felder. „Marion Crystal Handels GmbH“ verkauft Porzellan und Keramik und in einem Dorf werben Bauern für einen fairen Milchpreis: 40 Cent pro Liter.

In Erbendorf sehe ich eine geöffnete Gaststätte, das erste Mal auf meiner Reise. Also rein. Jesusmalereien und blau-weiß bestickte Tischdecken. Ich bin der einzige Gast. „Braten gibt es grad keinen“, begrüßt mich die Bedienung. Ich esse Tiefkühlzander und Dosengemüse.

Dann beginnt der steile Anstieg.

Die Sonne brennt mir den Ringerausschnitt meines Yogashirts auf den Rücken. Ich höre den Fahrtwind. Ich höre meinen Atem. Ich höre mein Herz. Die Gänge springen. Ich drehe an dem Seil, die Kette fliegt raus. Gepäck abladen, Fahrrad umdrehen, Kette wieder rein, Gepäck wieder drauf. Die Gänge springen weiter. Meine Beine verlieren sich im unrhythmischen Getrete. Egal. Weiter. Die Umgebung verschwimmt, meine Augen versuchen den Asphalt zu fokussieren. Lance Armstrong sagt, er fährt Rad, um zu beweisen, dass der menschliche Körper immer noch ein Wunder ist.

„Immer schön weiter treten“, kommentiert ein hagerer Rennradler auf Sonntagsausflug. Eine Radlerin ist mir bisher nicht begegnet. Warum eigentlich? Weil radeln eigentlich keinen Spaß macht? Weil das Erklimmen und Erobern ein Männerding ist?

Ein anderer versucht Kommunikation. Wieder: Wohin? Oha! Dann: „Geht’s noch?“ „Eigentlich nicht.“ „Na dann“ und beginnt mich den Berg hochzuschieben. „Hier auf der Kösseine trainieren die Radprofis“, sagt er. Was? „Ach so, Du kennst die Strecke gar nicht.“ 939 Meter hoch liegt der Gipfel. Jetzt sind es noch zwei Kilometer steil bergauf, sagt er, und dann eher moderat hoch und runter. Ich beschließe, es aus eigener Kraft schaffen zu wollen, pausiere und esse meinen ersten Traubenzucker – „Wenn Du schnell Energie brauchst, ist das zur Überbrückung ideal.“

Oben! Warum steht hier eigentlich keine Bank zum Ausruhen?

Runter. 42 Stundenkilometer, der Fahrtwind trocknet meinen Schweiß. Das Fahrrad schlingert, die Packtaschen wackeln. Konzentriert bleiben. Abbremsen. Schlagloch.

Dotz!

Das GPS schlägt auf den Asphalt und landet im Brennnesselgestrüpp des Seitengrabens. Und wo sind die Batterien? Ich sammle die Einzelteile zusammen und setze mich an den Straßenrand in Bad Alexanderbad. Nichts zu machen. Das Ding ist tot. Es ist 18 Uhr und Hof ist noch weit, hinter noch mehr Hügeln und wie ich hinkommen soll, weiß ich nicht. Also muss ich erstmal im Fichtelgebirge bleiben. Nach Wunsiedel müsste ja noch zu machen sein.

Für die letzten fünf Kilometer bis zu meinem neuen Tagesziel brauche ich noch eine Stunde. Ich stehe auf irgendwelchen Waldwegen, folge irgendwelchen Fahrradschildern, frage mich durch. Als ich eine Bushaltestelle sehe, breche ich dort zusammen. Ich sitze im hölzernen Wartehäuschen. Ich warte nicht auf einen Bus. Ich warte darauf, dass das Zittern aufhört und das Geheule. Die Wonnen der Endorphin-Ausschüttung hatte ich mir anders vorgestellt.

Ich bin fertig. Verdammt, was tu ich hier?

Tag fünf, Kilometer 309, Wunsiedel

Ich verordne mir Ruhe. Und verzweifle innerlich.

Meine Stimmung passt zu dem Granitchaos des Felsenlabyrinths, durch das ich gerade wandle, eine Hauptattraktion des Fichtelgebirges. Ich krieche durch einen engen Spalt, stoße mir den Kopf und laufe auf einem bemoosten Granitblock. „Erstaunen, Schrecken und Graun erregend“ nannte Goethe die übereinander gestürzten Felsmassen „ohne Spur von Ordnung und Richtung“.

In dem Tempo kann ich nicht weitermachen. Eine Stunde für fünf Kilometer. Bin ich so abhängig von Technik? Ist die Reise gelaufen?

„Quatsch“, sagt eine Apothekerin, bei der ich in der Nacht zuvor unterkommen war. „Ich fahre auch nur mit Karte.“ Unter anderem hat sie schon die Alpen überquert, früher lief sie Halbmarathons und jetzt zeigt sie sich entsetzt, welches Tschechienbild mir bisher vermittelt wurde „es ist wunderschön dort und sie haben perfekt ausgeschilderte Radwege“. Ebenso entsetzt ist sie davon, dass ich hauptsächlich Bundesstraße fahre. „Das ist sau gefährlich, außerdem hast Du nichts davon.“ Hundert Kilometer am Tag findet sie überambitioniert.

Wir fahren mit dem Auto in Tschechien rum. So schnell hat sich das noch nie angefühlt. Ganz ohne Kraft die Berge hoch und runter, dass einem fast schwindelig wird. Tschechien sieht erstmal so ähnlich aus wie Deutschland: Hügelig und grün. Wir flanieren durch die Innenstadt von Cheb. „Und, was hältst Du von den ganzen Nutten?“ Keine da. Weiter nach Františkovy Lázně, wo sich Deutsche für weniger Geld als in der Heimat physiotherapieren, massieren und sonst wie kurieren lassen. Der ganze Ort strahlt bürgerliche Behaglichkeit aus. Viele fahren auch zum billigen Tanken nach Tschechien, zum Essengehen oder zum Friseur.

Dann ein Vietnamesenmarkt in Aš, direkt hinter der Grenze. „Hier kann man Markenklamotten, Alkohol und Zigaretten kaufen, oder Crystal“, sagt die Apothekerin. Vor den Buden hängen Fahnen und Fußballtrikots; Lammfelle liegen neben Gartenzwergen. Eine absurde Vielfalt der Käuflichkeit.

Meine Verzweiflung wird zu Unsicherheit. Morgen versuche ich nach Hof zu kommen.

Tag sechs, Kilometer 309, Wunsiedel

Ich sitze vor meinen Autokarten aus dem Jahr 1990 und schreibe mir Namen von Dörfern, die ich auf dem Weg nach Hof passieren sollte, auf einen Zettel: Röslau, Kirchenlamitz, Schwarzenbach, Oberkotzau, Hof. Sieht nah aus. Mit knapp 40 Kilometern ist es meine kürzeste Strecke bisher.

Fünfzehn Minuten später stehe ich irgendwo im Wald. Es ist bewölkt, ich kann die Himmelsrichtungen nicht deuten. Wo ist Norden? Scheiße. Ein Ortsschild: Weißenstadt. Das steht nicht auf meinem Zettel. Dafür ist ein Radweg nach Kirchenlamitz ausgeschrieben. Er führt auf dem Hufeisen des Fichtelgebirges entlang durch die Wälder. Hat schon was, nicht Bundesstraße zu fahren. Aber schnell voran komme ich nicht. Ab Schwarzenbach dann an der Saale entlang. Wie angenehm zu wissen, dass ein Fluss einem den Weg weist.

In Hof merke ich, dass ich mich innerhalb der letzten sechs Tage von meiner Lebensnormalität entfernt habe. Vieles zählt nicht mehr. Strecke machen zählt, meine Beine, mein Magen, mein Herz, sonst nichts. Ich dachte, meine Reise würde mich näher an dieses Land bringen und sehe: meine Reise bringt mich vor allem näher zu mir.

Tag sieben, Kilometer 357, Hof

In Hof wird der Starkregen zum Sprühregen und ich will weiter, raus aus Bayern. Mittlerweile gibt es viele Wege von Hof in die Hauptstadt. Im geteilten Deutschland führte nur ein Weg dorthin: die Transitautobahn.

Für fünf D-Mark Transitgebühr konnten Westler durch die DDR fahren. „Anhalten durften wir aber nicht“, sagt Eva, 65, eine pensionierte Lehrerin. Die Strecke wurde überwacht durch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, durch die Volkspolizei und den DDR-Zoll. „Die Straßen waren schlecht und man fühlte sich beobachtet. Gerne habe ich das nicht gemacht.“

Für Eva hörte nördlich von Hof lange Zeit die Welt auf. Mit ihren Besuchern fuhr sie immer zur Grenze, Schlagbaum fotografieren und schnell zurück in den goldenen Westen. Dann kam die Wende. Der Geruch vom Benzingemisch der Trabanten lag in der Luft, überall lange Warteschlangen fürs Begrüßungsgeld, die Läden ab mittags leer gekauft. „Das ging vorbei, aber die Grenze blieb“, sagt Eva, „auch wenn die jetzt gute Autobahnen haben, aber da drüben ist es anders.“ Weniger Geld, andere Sprache und Kultur.

Das will ich mir ansehen. Das letzte Haus Bayerns ist weiß, mit spitzem Dach und Satellitenschüssel und stand auch vor der Wende schon hier. Ich überquere um 11 Uhr die ehemals deutsch-deutsche Grenze und denke: schön ist es hier in Sachsen, selbst auf der Bundesstraße. Dann folgt ein zerhauenes Dorf dem anderen. Viele Häuser stehen leer, sind nicht verputzt. Wenderuinen, wie die Menschen, die schon vormittags mit Bierflaschen in der Hand auf diesen Straßen sitzen.

Aber Zwickau, wo sich das „NSU-Terror-Trio“ versteckte, ist hübsch. Die Innenstadt herausgeputzt, die Wohnungen restauriert. Doch auch hier gibt es viel Leerstand.

Ich will ankommen.

Tag acht, Kilometer 426, Zwickau

„Es ist Schwachsinn, dieses Rennen. Du arbeitest wie ein Tier. (…) Du fährst in diesem Matsch, du rutscht aus. Es ist ein Haufen Scheiße.“ Theo De Rooy 1985 im Velodrom von Roubaix.

Ab Zwickau geht es nur noch bergab. So dachte ich, aber die Ausläufe des Mittelgebirges ziehen sich doch noch bis Leipzig. Eine Serie von Regen- und Gewitterschauern zieht über Deutschland. Zeit für den geliehenen Regenponcho.

Wieder verfahre ich mich ständig, ich habe weder Orientierung noch Konzentration, nur den Drang voranzukommen.

Und dann gibt es Momente, da passt alles zusammen: Die Regentropfen schlagen schwer auf Hände und Gesicht, auf dem Poncho bildet sich eine Pfütze. Donner, Blitz. Das Wasser vernebelt die Sicht. Ein schwerer Vorhang aus Depression und Abenteuer. Vorbei an einem Zuchthaus. Suchscheinwerfer und Stacheldrahtzaun auf hohen Mauern. Ich bin nass, aber frei, denke ich und: Wo bin ich?

Crossen, Mosel, Meerane, Gössnitz, Saara, Regis-Breitlingen, Neukieritzsch, Markkleeberg stehen auf meinem Zettel.

Sonne. Auf Feldwegen, in deren Schlaglöchern sich das Wasser der letzten Stürme sammelt, stieben Schmetterlinge auseinander. Manche Schlaglöcher mit Backsteinen notdürftig aufgefüllt. Maisfelder.

An einer Baustelle frage ich nach dem Weg. „Einfach auf den Pleiße-Radweg. Ist ausgeschildert.“ Ich finde den Fluss und einen Weg und fahre Richtung Norden. Der Weg wird zum Trampelpfad, wieder Regen. Kurs auf ein Kraftwerk. Rechts nur Acker. Dann hört auch der Pfad auf. Ich hoffe auf der anderen Seite des Ackers auf einen Weg. Die Sportschuhe sinken in die weiche Erde, das rasierte Getreide sticht sich durch meine Kleidung. Wo bin ich? Ein Kilometer Acker, durch Gestrüpp über einen Graben klettern, ein Feldweg, der zum See wurde. Schiebend durch die braune Lake stromern. Was für eine Scheiße.

In einem Wald höre ich Schüsse. Da hockt ein Mann mit Gewehr. Umgefallene Bäume versperren das, was mal ein Weg war, bevor Unkraut und Gräser Besitz von ihm nahmen. „Tach“, sagt der Mann. „Tach“, sage ich. Ich denke, dass man als alleinreisende Frau im Wald recht verletzlich ist und dass man mit so viel Gepäck schlecht davonlaufen kann, hebe das Fahrrad über Baumstämme, schiebe, versuche zu fahren. Donnergrollen. Gestrüpp blockiert die Räder. Wo bin ich? Ein Urwald mitten in Deutschland.

Dann bergauf, bergab Traktorspuren folgend, weiter. Schüsse. Raus aus dem Wald! Ein Wetterhahn quietscht im Wind, eine Reihe hölzerner Hütten, bunt bemalt. Courthouse, Saloon. Ein Westerndorf. Wo bin ich? Die Frage wiederholt sich in meinem Kopf wie ein Mantra. Sonst denke ich nichts.

Als ich mir in Leipzig den Matsch abwasche, kommt mein Kopf langsam in die zivilisierte Welt zurück.

Tag neun, Kilometer 521, Leipzig

Die Muskeln verlangen Ruhe, die Füße wollen nicht in die matschnassen Schuhe. Ich will weiter. Langsam ist das Fahren ein Automatismus. Ich fahre als hangelte ich mich an einer Schnur entlang, gezogen aus der Ferne. Die ersten zehn Kilometer sind immer zäh, ebenso die letzten, es wird kraftlos, Kopf und Körper sind müde. Irgendwer tritt weiter.

Der Weg ist nicht mein Ziel. Das Ziel ist das Ziel ist das Ziel.

Noch in der Stadt grasen Schafe an einem Fluss. Es dauert lange bis man Leipzig verlässt, viele Autobahnen sind zu umkurven. Auf meinem Zettel steht: Düben, Dübener Heide, Wittenberg. Tatsächlich wird es jetzt flacher als zuvor. Dafür kommt der Wind, der einen runterbremst wie ein Berg. Mir fällt auf: Ohne Berge fehlen die Hochs. Es ist mühsam, ohne dass man das Gefühl hat, man hätte etwas geschafft und ohne dass man mit einer Aussicht belohnt würde.

Ich bin nach Westen abgedriftet, statt in Düben, komme ich durch Delitzsch. Schotterpiste lässt meine Räder abrutschen.

Die Dübener Heide ist wieder Urwald, ein unwegsames Auf und Ab. Wieder Gewitterwolken, Donner. Meine Schuhe sind ohnehin noch nass, die Beine wieder voll Matsch. Das Ziel ist das Ziel ist das Ziel.

Wittenberg. Lutherstadt ist eine Touristenstadt mit wegen Restaurationsarbeiten verhängten Kirchen und voller Radfahrer mit Packtaschen. Ich fühle mich selten fremd unter ihnen. Sie fahren in Gruppen, die Fahrradwege geplant, die Übernachtungen reserviert.

Tag zehn, Kilometer 613, Wittenberg

Beim Frühstück sitzen Männergrüppchen im Radleroutfit, essen Nutellabrot und scherzen über den letzten Platten. Bleiben möchte ich hier nicht.

Das Ziel ist das Ziel ist das Ziel.

Und mittlerweile ist es sogar fast ausgeschildert. B2 Richtung Potsdam. Easy. Ob die Landschaft hier irgendwie reizvoll ist, weiß ich nicht. Zielrausch. Jeder Kilometer bringt mich näher, es ist so greifbar jetzt. Rast am Seddiner See, vierzig Kilometer vor Moabit. Die in der gestrigen Hitze vergorene Brotzeit werfe ich weg. Egal. Bald werde ich eine große Auswahl haben in den Supermärkten Berlins. Rast am Machnower See.

Berlin-Zehlendorf. 15 Uhr, Regenschauer, noch 15 Kilometer bis zum Ziel. Ich kreuze den Kuhdamm, Blick auf den Fernsehturm.

Kilometer 721. Und ich bin gleich da.

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